GEE Preis 2020 online

Kurzfassung der Dissertation von Herrn Dr. Christian Wagner (TU Dortmund), Gewinner des GEE-Preis-2020 in der Kategorie “Beste Dissertation”

„Integration und Bewertung der Spitzenkappung als Planungsgrundsatz zur wirtschaftlichen Netzentwicklung in Mittelspannungsnetzen“

Der strukturelle Wandel des Energieversorgungssystems führt durch die zunehmend dezentral fluktuie-rende Einspeisung zu einer grund-legenden Veränderung der Versorgungs- und Planungsaufgabe von elektrischen Verteilnetzen. Leistungsflüsse werden zunehmend fluktuierend und bidirektional, wodurch die bisherige Konvention zur Auslegung der Verteilnetze als unzureichend angesehen werden kann. Die oftmals durch sehr hohe Rückspeisung von vorzugsweise dargebotsabhängigen Erzeugern wie Windenergieanlagen (WEA) und Photovoltaikanlagen (PVA) verursachten Kapazitätsüberschreitungen induzieren einen teilweise deutlichen Netzausbaubedarf im Verteilnetz. Die Notwendigkeit der Netzertüchtigung orientiert sich dabei üblicherweise an der über das Jahr maximal erwarteten Rückspeiseleistung und erfolgt über konventionelle Ausbaumaßnahmen. Diese umfassen beispielsweise das Verlegen von parallelen Leitungen oder Leitern mit größerem Querschnitt sowie die Installation von leistungsstärkeren Transformatoren. Bei der Ertüchtigung der Netze wird jedoch weder die Dauer noch die Häufigkeit der angenommenen Rückspeiseleistung berücksichtigt. Dies führt dazu, dass Kapazitäten geschaffen werden, die viel Kapital binden, jedoch nur in wenigen Stunden des Jahres tatsächlich benötigt werden.
Eine effiziente Möglichkeit zur Reduktion des durch die Einspeisung von dezentralen Energieumwandlungsanlagen (DEA) induzierten Netzausbaubedarfs ist die temporäre Leistungsreduktion (Abregelung) dieser Anlagen in Zeiten hoher Einspeisung und gleichzeitig geringer Netzlast. Diese Situationen treten nur selten auf, sodass die Netzbelastung durch die temporäre Abregelung der DEA deutlich reduziert werden kann, dabei aber nur eine vergleichsweise geringe nicht eingespeiste Energiemenge im Jahresverlauf hingenommen werden muss. Konsequenterweise wurde im Jahr 2016 in Deutschland die Spitzenkappung als planerischer Freiheitsgrad eingeführt. Die Spitzenkappung erlaubt es Betreibern von Elektrizitätsversorgungsnetzen die elektrische Energie aus Windkraft an Land und Photovoltaik in der Netzplanung um bis zu drei Prozent zu reduzieren. Dabei lässt der Gesetzgeber jedoch offen, wie die Spitzenkappung umgesetzt und in die Verteilnetzplanung integriert werden kann.
Die vorliegende Untersuchung setzt an dieser Stelle an und fokussiert sich auf die Integration und Bewertung der Spitzenkappung als Pla-nungsgrundsatz zur wirtschaftlichen Netzentwicklung in Mittelspannungsnetzen (MS-Netzen). Aus dieser Zielsetzung heraus werden die drei wesentlichen Forschungsfragen dieser Arbeit abgeleitet.

  1. Wie kann die Spitzenkappung umgesetzt werden und wie können die verschiedenen Verfahren zur Umsetzung der Spitzenkappung in den (etablierten) Planungsprozess von Verteilnetzen integriert werden?
  2. Wie viel zusätzliche Netzanschlusskapazität kann durch den Einsatz von Spitzenkappungsverfahren in Mittelspannungsnetzen gewonnen werden?
  3. Wie wirkt sich die Spitzenkappung monetär auf den Netzausbaubedarf in Mittelspannungsnetzen aus und wie hoch sind gegebenenfalls zu erzielenden Einsparungen?
    Um die die Signifikanz der gewonnenen Erkenntnisse zur gewährleisten und um allgemeine Handlungsempfehlungen ableiten zu können, erfolgen die durchgeführten Analysen nicht nur exemplarisch für einzelne Mittelspannungsnetze und Zeitreihen, sondern für umfassende und repräsentative Stichproben. Die bei der Beantwortung der Forschungsfragen gewonnen Erkenntnisse können wie folgt zusammengefasst werden:
    Für die Integration der Spitzenkappung in die Verteilnetzplanung ist die Dauer und Häufigkeit von kritischen Belastungssituationen der Netze entscheidend, da nach aktueller Gesetzeslage sichergestellt werden muss, dass die über das Jahr nicht eingespeiste Energiemenge drei Prozent nicht übersteigt. Heute erfolgt die Dimensio-ierung des Netzes jedoch ausschließlich anhand von ExtremwertSzenarien (sog. Worst-Case-Planung), die die vollständige Bandbreite aller möglichen Netzzustände abbilden sollen. Üblich ist die Analyse des Starklast- und Rückspeisefalls. Die Abbildung dieser beiden Netznutzungsfälle in der Netzplanung erfolgt anhand von auf die installierte Leistung bezogenen Skalierungsfaktoren und berücksichtigen die angenommene Gleichzeitigkeit zwischen Last und Erzeugung im jeweiligen Fall. Zwar werden mit diesem Ansatz potenziell alle möglichen Belastungssituationen berücksichtigt, jedoch kann weder eine Aussage über deren reale Auftrittswahrscheinlichkeit getroffen werden noch darüber, ob die angenommenen Szenarien überhaupt real auftreten. Die konventionelle Planung resultiert folglich häufig in Überkapazitäten.
    Ein geeigneter Ansatz zur Berücksichtigung der Zeitkopplung zwischen Energie und der in der Netzplanung dimensionierungsrelevanten Leistung ist die zeitreihenbasierte Netzplanung. Bei dieser Planungsvariante werden Netznutzer durch gemessene oder simulierte Leistungsprofile abgebildet und die resultierende Netzbelastung für alle diskreten Zeitschritte (i. d. R. alle Stunden- oder Viertelstunden eines Jahres) der Leistungsprofile bestimmt. Darüber hinaus kann die Analyse von Zeitreihen auch als vorgelagerter Schritt in der Netzplanung erfolgen, um die angenommenen Extremwertszenarien besser an die realen Belastungssituationen anzunähern und die im Zuge der Spitzenkappung im Jahresverlauf abgeregelte Energie bewerten zu können.
    Die Spitzenkappung kann pauschal oder dynamisch erfolgen. Die pauschale Spitzenkappung basiert auf festen Reduktionsfaktoren, die zur Skalierung der planerisch zu berücksichtigenden Anlagenleistung von WEA und PVA genutzt werden können. Die pauschale Spitzenkappung kann dabei unmittelbar in den gängigen Planungsprozess integriert werden. Die dynamische Spitzen-kappung erfolgt hingegen durch die bedarfsgerechte und zeitlich flexible Leistungsanpassungen der DEA. Dabei ist sie effizienter, d. h. bei gleicher planerischer Abregelung können mehr DEA in das Netz integriert bzw. eine stärkere Vermeidung von Netzausbau erzielt werden als bei der pauschalen Spitzenkappung. Die dynamische Spitzenkappung jedoch aufwendiger. Sie bedingt u. a. Leistungszeitreihen in mindestens stündlicher Auflösung, rechenfähige Netzmodelle und ausreichende Überwachbarkeit des aktuellen Netzzustandes. Folglich kann die dynamische Spitzenkappung nicht ohne Anpassungen in den gängigen Planungsprozess integriert werden.
    Die zur Abbildung der pauschalen Spitzenkappung notwendigen Reduktionsfaktoren für PVA und WEA werden durch die vorgelagerte statistische Auswertung von 1350 gemessenen Leistungszeitreihen realer und über ganz Deutschland verteilter DEA ermittelt. Die ermittelten Reduktionsfaktoren sind 0,87 für WEA und 0,7 für PVA und kön-nen unmittelbar deutschlandweit für die Netzplanung verwendet werden. Die Abbildung der dynamischen Spitzenkappung kann nicht isoliert von der Leistungsflussrechnung des elektrischen Netzes erfolgen. Für jeden Zeitschritt muss die sich unter Berücksichtigung der Last- und Erzeugungszeitreihen einstellende Netzbelastung bestimmt und die notwendige Abre-gelung räumlich und zeitlich opti-miert ermittelt werden. Hierzu wird ein Simulationsmodell aufgestellt, welches die dynamische Spitzenkappung als Einsatzplanungsproblem bzw. als sogenannten linearisierten Security Constrained Optimal Power Flow abbildet und in Form einer mathematischen Optimierung löst. Der entwickelte Simulationsansatz erlaubt die Analyse der Spitzenkappung als Planungsoption für eine größere Anzahl an Verteilnetzen, wodurch nicht nur exemplarische, sondern statistisch repräsentative Aussagen über die Wirkweise der Spitzenkappung als Planungsgrundsatz getroffen werden können.
    Zur Analyse, der durch den Einsatz von Spitzenkappung zusätzlich nutzbaren Netzanschlusskapazität in Mittelspannungsnetzen werden 123 MS-Netze untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die dynamische aber auch die pauschale Spitzenkappung gut geeignet sind, um die nutzbare Netzanschlusskapazität zu steigern. Durchschnittlich kann diese in den analysierten MS-Netzen um 29 % (pauschal) bzw. 53 % (dynamisch) gesteigert werden. In einzelnen Netzen kann die Netzanschlusskapazität sogar um bis zu 82 % bzw. 147 % gesteigert werden. Die Effektivität beider Spitzenkappungskonzepte ist dabei abhängig vom konkreten MS-Netz.
    Für die ökonomische Bewertung der Spitzenkappung müssen neben den Netzausbauinvestitionen auch die Kosten des durch die Spitzenkappung induzierten betrieblichen Einspeisemanagements quantifiziert werden. Hierzu wird ein weiteres Simulationsmodell entwickelt, welches die Stufung von Transformatoren, die bedarfsgerechte Blindleistungsbereitstellung von DEA sowie das betriebliche Einspeisemanagement abbildet. Die Ergebnisse zeigen, dass die betrieblich notwendige und kompensationspflichtige Abregelung aufgrund der unterschiedlichen Regularien und des hierarchischen Einsatzes von operativen Netzentlastungsmaßnahmen deutlich geringer als die planerisch angenommenen 3 % ausfällt. Durch diese quantitative Erkenntnis wird eine einfache, aber präzisere Abschätzung der durch die pauschale sowie dynamische Spitzenkappung tatsächlich induzierten Entschädigungszahlungen ermöglicht, wodurch ein wesentlicher Mehrwert gegenüber den bisher üblichen Abschätzungen geschaffen wird.
    Für die Bewertung der Investitionen des zur Spitzenkappung ggf. ergänzend noch notwendigen konventionellen Netzausbaus sowie die im Referenzszenario, d. h. Netzausbau ausschließlich durch konventionelle Maßnahmen, anfallenden Investitionen wird ein regelbasierter heuristischer Prozess entwickelt. Dieser ermöglicht die automatisierte technisch-ökonomische Bewertung des Netzausbaubedarfs für eine beliebig große Anzahl von Verteilnetzen und Untersuchungsszenarien. Mithilfe dieses Prozesses kann, der sich für unterschiedliche Entwicklungsszenarien und verschiedene Planungsoptionen einstellende Investitionsaufwand für einzelne oder eine beliebig große Anzahl von Verteilnetzen analysiert werden. Dies ermöglicht die schnelle und vergleichende Bewertung neuer Planungsoptionen (z. B. Spitzenkap-pung) hinsichtlich des anfallenden Investitionsaufwands.
    Mithilfe der entwickelten Modelle und Prozesse wird abschließend bewertet, wie stark die notwendigen Investitionen zur Ertüchtigung des MS-Netzes durch die Spitzen-kappung reduziert werden können. Die Bewertung erfolgt anhand der Detailanalyse einer Stichprobe aus 48 realen MS-Netzen für zwei un-terschiedlich prognostizierte Versorgungsaufgaben (inkl. Sektoren-kopplung) in Baden-Württemberg im Jahr 2030, wobei die Ergebnisse der Stichprobe mittels Extrapolati-on auf die gesamte Untersuchungs-region ausgeweitet werden. Bei heutigen Rahmenbedingungen können die notwendigen Investitionen unter Berücksichtigung anfallender Kompensationszahlungen für Einspeisemanagementmaßnahmen um ca. 12 % bis 21 % reduziert werden.
    Die Arbeit zeigt, dass die Spitzenkappung ein gut geeignetes Instrument zur effizienten Planung von MS-Netzen ist. Die Höhe der erzielten Einsparungen ist dabei abhängig von der gewählten Spitzenkappungsstrategie und Versorgungsaufgabe. Durch die dynamische Spitzenkappung können höhere Einsparungen als durch die pauschale Spitzenkappung erzielt werden. Da nur in einem Teil der MS-Netze Einsparungen generiert werden, sollte die Spitzenkappung nicht uneingeschränkt und grundsätzlich als Planungsvariante herangezogen, sondern bedarfsgerecht und gezielt eingesetzt werden

Dr. Christian Wagner
Dr. Christian Wagner, Ehem. TU Dortmund, Beste Dissertation 2020

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